Geflüchtete überqueren die ungarisch-serbische Grenze.
– Flucht und Migration
„Wir sind keine Tiere, Pater“
Pater Arturo Sosa, der Generalobere der Jesuiten, wendet sich mit einem eindringlichen Appell an die Weltöffentlichkeit: Geflüchtete und Migranten sind vollwertige Menschen mit unveräußerlicher Würde und müssen als solche behandelt werden. Er fordert konkrete politische Veränderungen, ein Umdenken in der Gesellschaft und mehr Engagement im Geist des Evangeliums.
An der Front sozialer Konflikte
1974 wandte sich Papst Paul VI. an die Delegierten der 32. Generalkongregation der Gesellschaft Jesu mit den Worten: „Wo immer in der Kirche – selbst in den schwierigsten und extremsten Bereichen, an den Kreuzungen der Ideologien, an der vordersten Front sozialer Konflikte – eine Konfrontation zwischen den tiefsten Sehnsüchten des Menschen und der immerwährenden Botschaft des Evangeliums besteht, da waren und sind auch Jesuiten.“
Ich glaube, dass diese Worte auch heute noch auf die Gesellschaft Jesu zutreffen. Insbesondere stehen wir Jesuiten und unsere weltlichen Weggefährtinnen und Weggefährten an vorderster Front sozialer Konflikte, wenn es um die Fürsorge für Migranten und Vertriebene geht. Der Jesuit Refugee Service (JRS) ist in über 40 Ländern aktiv – darunter die Ukraine, der Libanon, Syrien, Afghanistan, Tschad und Südsudan – und begleitet, bildet und setzt sich für Geflüchtete ein. Wir unterhalten Dienste an zahlreichen internationalen Grenzen, etwa zwischen den USA und Mexiko, Haiti und der Dominikanischen Republik, Thailand und Myanmar, Venezuela und Kolumbien, um nur einige zu nennen. Auch unsere Jesuitenuniversitäten engagieren sich in Forschung, Diskussion und Analyse zu den Ursachen von Migration sowie den sozialen Bedingungen und Ideologien, die Menschen zur Flucht zwingen. Die Gesellschaft Jesu bleibt an der Front sozialer Konflikte – auf der Suche nach Lösungen und Hoffnung für die Gebrochenen.
Die apostolischen Werke der Jesuiten, die sich für Migranten einsetzen, leisten dann am meisten, wenn sie praktische Arbeit mit intellektueller Arbeit verbinden, wenn sie die Stimmen der Migranten und derjenigen, die sie direkt begleiten, mit Forschung, politischem Eintreten und Lösungssuche verknüpfen. Ein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit ist die weltweite Vernetzung unserer Jesuitenmissionen, damit die wissenschaftlichen Erkenntnisse stets auf den Erfahrungen der Praxis beruhen.
Unsere Würde und unsere Rechte gründen sich auf unser Menschsein
Die Geistlichen Übungen des heiligen Ignatius beginnen mit dem Ersten Prinzip und Fundament: Gott zu loben, zu ehren und ihm zu dienen. Es ist die Grundlage unseres persönlichen und gemeinschaftlichen Tuns, und jeder Jesuit kehrt bei seinen jährlichen Exerzitien dorthin zurück. Die Lebenskraft der Gesellschaft hängt an der Treue zu diesem Fundament. Ebenso basiert der katholische Glaube – wie auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO – auf dem Prinzip, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren sind. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern: Unsere Würde und unsere Rechte gründen sich auf unser Menschsein, nicht auf unsere Nationalität oder unseren Geburtsort.
Ein Anwalt und Jesuit, der in Haftzentren für Migranten arbeitet, berichtete einmal von einem Klienten, der sagte: „No somos animales, Padre“ – „Wir sind keine Tiere, Pater.“ Die spontane Antwort ist: „Natürlich nicht!“ – und doch zeigt der weltweite Umgang mit Migranten, dass wir sie oft nicht als vollwertige Menschen mit gleichen Rechten und gleicher Würde betrachten.
Auf dem Weg zu einem besseren Leben werden sie ausgebeutet, verkauft, verschleppt, sexuell missbraucht und am Ende entsorgt. Wenn sie ihr Ziel erreichen, begegnet man ihnen mit Verachtung – sie werden wie Kriminelle behandelt. Zu oft werden sie von ihren Familien getrennt und in abgelegene Haftzentren ohne Rechtsbeistand oder Kommunikationsmöglichkeiten gesteckt. Kinder warten vergeblich in der Schule auf Eltern, die bei einer Razzia verhaftet wurden. Ich höre Geschichten von Menschen, die auf offener Straße festgenommen wurden und ihre Medikamente nicht holen durften – und denen im Gefängnis medizinische Versorgung verweigert wurde.
Wenn ich diese Geschichten höre, verstehe ich, warum Migranten sagen müssen: „No somos animales, Padre.“
Vor fünf Jahren veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika Fratelli Tutti, in der er eine Wiedergeburt brüderlicher Liebe fordert – durch echte Anerkennung der Menschenwürde. Sie erinnert uns: „Somos hermanos y hermanas“ – „Wir sind Brüder und Schwestern“ – und „No somos animales“.
Daraus ergibt sich die Frage: Wie sieht eine echte Anerkennung der Menschenwürde in Bezug auf Migration und Rechtsstaatlichkeit aus?
Drei Prinzipien, die nicht verhandelbar sind:
1. Das Recht zu bleiben
Das erste Prinzip lautet: Jeder Mensch hat das Recht, in seiner Heimat ein würdevolles Leben zu führen – also nicht migrieren zu müssen. Echte Anerkennung der Menschenwürde würde bedeuten, menschliche Entwicklung über militärische Hilfe zu stellen. Wir sprechen oft vom Recht, ein besseres Leben in einem neuen Land zu suchen – kaum jedoch vom Recht, eines im eigenen Land aufzubauen, bei der Familie zu bleiben, Kultur und Lebensrhythmus zu bewahren.
Wenn Institutionen von Prioritäten sprechen, sollte man sich deren Budget ansehen – dort zeigt sich, was wirklich wichtig ist. Schwer zu glauben, dass man die Bildung von Armen ernst nimmt, wenn kaum Mittel für Stipendien bereitstehen. Ebenso schwer zu glauben, dass man das Recht zu bleiben unterstützt, wenn der Großteil von Entwicklungshilfe in Militär und Rohstoffförderung fließt.
Würden wir das Recht zu bleiben ernst nehmen, würden unsere Budgets den Zugang zu sauberem Wasser, Bildung, Gesundheitsversorgung und ländlicher Entwicklung fördern – nicht autoritäre Regime und Sicherheitskräfte, die Menschenrechte verletzen und Migration antreiben.
2. Das Recht zu migrieren
Das zweite Prinzip ist das Recht, in einem anderen Land ein würdevolles Leben zu führen – also zu migrieren, um sich und die Familie zu versorgen. Papst Franziskus schreibt: „Jeder Mensch hat das Recht, in Würde zu leben und sich integral zu entwickeln.“ (Fratelli Tutti, Nr. 107). Viele Eltern migrieren, um Bildung für ihre Kinder oder Medikamente für Angehörige zu finanzieren – Dinge, die in der Heimat unerreichbar sind. Anerkennung der Würde bedeutet daher, Familiennachzug zu ermöglichen und legale Migrationswege zu schaffen.
Hier geht es um sogenannte Push-Faktoren – Armut, Gewalt, Hoffnungslosigkeit. Doch es gibt auch Pull-Faktoren: Länder, die billige Arbeitskräfte brauchen, Menschen anziehen und in gefährliche Situationen bringen. Ob beim Wiederaufbau nach Katastrophen, in der Landwirtschaft oder im Bau: Migrantinnen und Migranten leisten oft die harte Arbeit – und werden dann kriminalisiert.
Natürlich haben Staaten das Recht, Grenzen zu kontrollieren. Aber Grenzen dürfen nicht genutzt werden, um ungerechte Wirtschaftssysteme zu erhalten, die auf undokumentierter Arbeit beruhen. Faire Gesetze machen Grenzen sicherer. Ich bin überzeugt: Wenn Menschen guten Willens miteinander reden, lassen sich Lösungen finden. Doch Medienberichte, die Migranten als Drogenhändler und Terroristen darstellen, schaffen Angst und führen zu Gesetzen, die weder Migranten noch dem Gemeinwohl dienen.
3. Das Recht auf Frieden
Das dritte Prinzip ist das Recht auf ein würdevolles Leben ohne Gewalt und Krieg. Menschen, die vor Gewalt fliehen, haben das Recht auf Asyl und Schutz – das ist seit Langem internationales Recht. Eine echte Anerkennung der Menschenwürde würde bedeuten, diese Rechte zu achten und ausreichend Mittel für Asylverfahren bereitzustellen. Doch angesichts von über 122 Millionen Geflüchteten weltweit sinken die Aufnahmequoten wohlhabender Länder.
Auch das Asylsystem ist vielerorts defekt: Menschen, die Schutz suchen, werden abgewiesen oder jahrelang hingehalten – oft ohne Arbeitserlaubnis oder Lebensgrundlage. Das widerspricht nationalen und internationalen Gesetzen, die eigentlich schützen sollen.

Mit den Augen Gottes auf die Welt blicken
Die Hoffnung, dass diese drei Prinzipien verwirklicht werden, hängt von zwei Dingen ab: dem Rechtsstaat und barmherzigen Herzen. Die Werte müssen gesetzlich verankert und durchgesetzt werden. Doch leider verliert der Rechtsstaat an Bedeutung – autoritäre Führer und harte Gesetze gewinnen an Boden, die das Beste im Menschen bestrafen.
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter – zitiert in Fratelli Tutti – verpflichtet uns, dem Nächsten zu helfen. Doch wir erleben Gesetze, die Hilfe kriminalisieren. Unsere Grenzunterkünfte, Orte der Barmherzigkeit, werden von Politikern – auch katholischen – als Hilfe zur Schlepperei diffamiert.
Die heutige Mission der Gesellschaft Jesu, formuliert bei der 32. Generalkongregation als „Dienst am Glauben und Einsatz für Gerechtigkeit“, ist für diese Aufgabe besonders geeignet. Unsere mehr als 3.000 Schulen in 80 Ländern, mit fast zwei Millionen Schülern, müssen Orte sein, an denen Kinder lernen, dass jeder Mensch Würde besitzt – und dass Mitgefühl und Gerechtigkeit keine Straftaten sind, sondern Teil des Evangeliums. Wir müssen junge Führungskräfte ausbilden, die barmherzig und gerecht handeln – mit aufrichtiger Achtung vor der Menschenwürde.
Am Anfang der Geistlichen Übungen von Ignatius steht eine Betrachtung über die Menschwerdung Gottes: Gott schaut auf die leidende Welt – und tritt ein. Ignatius wollte, dass Jesuiten mit den Augen Gottes auf die Welt blicken – mit einem „universellen Blick“ auf das Leiden und dann entscheiden, wie sie antworten.
So viele, die heute mit Migrantinnen und Migranten arbeiten, haben diese Entscheidung getroffen: Sie sind eingetreten in die Welt der Leidenden, um mit Herz, Verstand und ihren Händen Heilung zu bringen.
Ich danke ihnen allen. Möge der Herr das Werk eurer Hände, Herzen und Gedanken segnen.
Pater Arturo Sosa SJ, Generaloberer der Jesuiten