Pater Felix Schaich SJ macht derzeit sein Tertiats-Experiment beim Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS) im Nord-Irak. Das Tertiat ist der letzte Abschnitt der Ausbildung eines Jesuiten. In dieser Zeit machen Jesuiten sogenannte Experimente, also Zeiten, wo „experimentiert“, ausprobiert, entdeckt werden darf. In dieser Zeit im Tertiat leben und arbeiten Jesuiten in einem Kontext, in dem sie meist mit besonders vulnerablen Menschen, der sozialen Frage oder ähnlichen existenziellen Kontexten konfrontiert werden. Felix Schaich SJ wollte an den Ort, wo die Not von Geflüchteten wirklich greifbar ist. Ein Bericht aus dem Irak:
Die Flüchtlingsfrage ist neben der Corona-Pandemie und der Klimaveränderung eine der dringendsten Herausforderungen weltweit. Das gilt auch für die Europäische Union und uns in Deutschland. Prognosen gehen von steigenden Zahlen in den nächsten Jahrzehnten aus. Bilder aus Moria und gerade aktuell von den Kanarischen Inseln lassen uns nicht unberührt.
Deshalb wollte ich in meiner Sabbatzeit und während des von meinem Orden vorgeschlagenen sozialen Experiment mir unbedingt vor Ort ein Bild von der Not Geflüchteter machen, in ihre Lebenswelt eintauchen und mich berühren und anrühren lassen; dort wo das Leid und Fluchtursachen nicht nur medial vermittelt, sondern sehr direkt gegeben sind.
Fluchtpunkt Kurdistan
Seit zwei Monaten arbeite ich als Jesuit mit dem „Jesuit Refugee Service“ (JRS) im Irak. Dort ist er an drei Orten vertreten: Erbil, Qaraqosh bei Mossul und Sharya bei Dohuk. Diese Orte sind in der autonomen Region Nordirak/Kurdistan gelegen. Die dortigen Autoritäten ermöglichen eine relativ sichere Arbeit von NGOs wie dem JRS, im Gegensatz zum südlichen Irak, wo die Sicherheitslage angespannter ist.
Ich halte mich in Sharya auf, hierher flüchtete ein Großteil der Jesiden vor den Milizen des IS-Staates, die im August 2014 einen religiös motivierten Genozid an dieser Minderheit verübt haben. Die Jesiden verbinden auf einzigartige Weise Kultur, Ethos, Religion und Identität. Aufgrund ihrer Andersartigkeit und dem Vorurteil, Ungläubige zu sein, sind sie in der Vergangenheit schon mehrfach Verfolgung und Ausrottung ausgesetzt gewesen. Der Genozid durch den IS von 2014 stellt dabei einen erschreckenden Höhepunkt dar: Männer wurden vor den Augen ihrer Frauen und Kinder getötet. Frauen und Kinder, die nicht fliehen konnten, wurden gefangen genommen, verschleppt, in die Nachbarländer verkauft und versklavt – oftmals einhergehend mit regelmäßigem sexuellen Missbrauch. Jetzt leben sie als „Internally Displaced Persons“ (IDPs), sprich Binnenvertriebene, in Zelten und Bauruinen. In einem persönlichen Gespräch mit IS-Überlebenden bekam ich zu hören, dass sie keine zwei Stunden Zeit hatten, um die Flucht aus ihrer Heimat, dem eingekesselten Sindschar, anzutreten und sie die Maschinengewehre gehört hatten. Jesidische Männer schossen einen Fluchtkorridor frei, durch den sie fliehen konnten.
Mehr als Überlebenshilfe
Der JRS erkannte schnell, dass hier eine humanitäre Katastrophe geschah. Gemäß eines der JRS-Leitmotive „Our task is to help refugees to more than survive.”, gründete er hier ein Zentrum, wo monatlich folgende Hilfe angeboten werden kann:
- Über 400 Familien werden besucht und ihre Notlage erfasst. Zudem werden Hilfsgüter verteilt, und an 40 Familien kann eine einmalige finanzielle Unterstützung in Höhe von 100-200 Euro gegeben werden;
- Psychologische und psychiatrische Begleitung wie Psychotherapie und Traumabehandlung durch fünf Psycholog*innen für über 200 IS-Überlebende;
- 60 Personen und Familien erhalten juristische Unterstützung und Hilfestellung bei Behördengängen;
- Zusätzlich gibt es ein pädagogisches Zentrum mit frühkindlicher Erziehung für über 200 Kinder und Jugendprojekte außerhalb der Schule.
Als Mitarbeit*innen bei diesen Aktivitäten wurden bewusst zu 90% Jesiden gewonnen, wodurch eine gute Kommunikation und viel Vertrauen zwischen JRS und den Familien aufgebaut werden kann. Einige unsere Mitarbeiter*innen sind sogar selbst IDPs, die vor sechs Jahren hier herkamen und die Situation als IS-Überlebende selbst erfahren haben.
Depressionen, Psychosen, Traumata
Ich selbst war in meinen ersten Wochen viel mit den Family-Visit-Teams direkt im Kontakt mit den Familien. Wir verteilten Atemmasken, Lebensmittelkörbe, Decken und Planen, holten Informationen ein, die wir dann an unsere Psychiater weitergaben, die dann den Kontakt mit den Betroffenen herstellen. Die Suizidrate in diesen Familien ist nach wie vor sehr hoch, und viele verschleppte Frauen und Kinder sind mit schweren Depressionen, Psychosen und schwer traumatisiert zurückgekehrt, genauso wie viele Jungen, die vom IS gefangen genommen wurden und mittels Gewalt und Gehirnwäsche zu Kämpfern ausgebildet und zum Schießen und Morden gezwungen wurden.
Ich bin überrascht und tief beeindruckt von der Bereitschaft dieser Menschen, uns ihr Vertrauen zu schenken und sich uns zu öffnen. Obwohl ich die Sprache nicht beherrsche und ich auf Übersetzungen angewiesen bin, sind die Begegnungen mit ihnen für mich doch sehr persönlich. Und sie sind bereichernd und überfordernd zugleich. Bisher Selbstverständliches wird kostbar, und bisher Unvorstellbares wird Realität. Vor wenigen Tagen durfte ich eine achtköpfige Gruppe 15-17jähriger Mädchen erleben, die mit unserer Sozialarbeiterin und einem Psychologen in unserem Zentrum zusammenkamen. Bis vor wenigen Wochen arbeitete ich selbst mit jungen Mädchen am Canisius-Kolleg in Berlin, hier sehe ich nun Gleichaltrige, die in mehrjähriger Gefangenschaft Folter, Ausbeutung und zigfachen sexuellen Missbrauch erleben mussten. Die Diskrepanz der Erlebnis- und Erfahrungswelten dieser jungen Frauen ist erschütternd. Ich bin dankbar, dass es dem JRS möglich ist, hier solch hervorragende Arbeit zu leisten, damit diese Mädchen wieder ein Stück Lebensqualität erhalten.
Alternativen zum Weg nach Europa
Beeindruckend ist die Solidarität der hier in Sharya lebenden Iraker: vor ihren Toren, aber auch auf jedem freien Platz in der Stadt ließen sie in den letzten sechs Jahren tausende jesidische Familien Zuflucht finden. Kein Fremdenhass, kein Argwohn, sondern solidarische Gastfreundschaft, da die meisten Bewohner von Sharya selbst in den letzten fünfzig Jahren als Binnenvertriebene hier ein neues Zuhause finden konnten.
90% der Familien, die der JRS betreut, können sich nicht vorstellen, in ihre Heimat nach Sindschar oder Mossul zurückzukehren, da die Lage dort nach wie vor unsicher ist und das Zusammenleben mit den dortigen Sunniten, die sie damals nicht verteidigt haben bzw. sogar mit den IS-Milizen kollaboriert haben, nicht denkbar ist. Hier ist noch viel Versöhnungsarbeit zu leisten.
Damit sie nicht den beschwerlichen, teuren und gefährlichen Weg nach Europa, in eine fremde Kultur antreten müssen, hilft der JRS, damit sie hier ein neues Leben aufbauen können.
Fragen nach Klarheit und einem eindeutigen Standpunkt zur Flüchtlingsproblematik, wie sie in Deutschland immer wieder gestellt werden, sind hier in den Hintergrund gerückt. Was ich sehe ist, dass niemand freiwillig seine Heimat verlässt und über jede Hilfe dankbar ist. Damit Menschen nicht einen gefährlichen Weg ins gelobte Land „Europa“ auf sich nehmen müssen, kann vor Ort viel getan werden. Im Kleinen durch NGOs wie den JRS und im Großen durch eine mutigere Bekämpfung von Leid, Fluchtursachen und Ungerechtigkeit auf weltpolitischer Ebene.
Mein Aufenthalt hier hat mich mit tiefer Verzweiflung, Leid und Schmerz IS-Überlebender konfrontiert, aber auch ein irakisches Volk gezeigt, das mit großer Solidarität, Hilfsbereitschaft und Hoffnung auf eine bessere, vor allem friedliche Zukunft lebt – die möglich ist, wenn wir sie dabei unterstützen.
Spenden & helfen
Autor
Pater Felix Schaich SJ (geb. 1978 in Laupheim) ist 2001 in die Gesellschaft Jesu eingetreten. Er absolvierte die ordensübliche Ausbildung in Philosophie (München) und Theologie (Rom). 2010 wurde er zum Priester geweiht.
Seit Ende 2012 ist er Geistlicher Leiter der Ignatianischen Schülerinnen- und Schüler Gemeinschaft (ISG), einem ignatianischen Jugendverband am Canisius-Kolleg in Berlin mit insgesamt über 650 Mitgliedern.