– Kenia

„The Nest“: eine (noch) sichere Oase in der Krise

„Hilflosigkeit und Hunger machen aggressiv“: Die Bürger der kenianischen Hauptstadt Nairobi leiden unter den Folgen der Corona-Pandemie – auch Irene Baumgartner und ihr Team vom Kinderheim „The Nest“ stellt die Situation vor ungeahnte Schwierig­keiten. Dazu kommt, warnt die Leiterin des Programms für Kinder in Not und ihre inhaftierten Mütter: „Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie sind noch gar nicht abzusehen.“

2019: Starthilfe für 79 Kinder und ihre Mütter

Als ich Ende August 2019 nach Nairobi zurück­kam, fand ich im „Nest“ alles in bester Ordnung, alles ging seinen gewohnten Gang und nichts deutete darauf hin, dass sich das je ändern würde. Wir überdachten mit Zuversicht die Pläne für das neue Half-Way House, einem Projekt zur Zusammenführung der haftentlassenen Mütter mit ihren Kindern, und freuten uns, dass wir die Baugenehmigung endlich erhalten hatten. Neue Kinder aus Notsituationen wurden uns vom Gericht überstellt, und andere konnten mit ihren Müttern nach Hause gehen. Das Wiedereingliederungsprogramm lief erfolgreich weiter, allein zwischen September und Januar konnten wir 79 Kindern und ihre Mütter zu einer besseren Zukunft verhelfen. Außerdem wurden 2019 sechzehn Babys in kenianische Adoptionsfamilien vermittelt, wo sie in einer liebevollen Umgebung groß werden dürfen – Auslandsadoptionen sind nach wie vor verboten.

Weihnachten war wie jedes Jahr ein Fest, ausgefüllt mit Plätzchen backen und Festessen vorbereiten, Geschichtenerzählen und Adventkalender aufmachen, Weihnachtskarten und allerlei Dekoration basteln! Wie jedes Jahr durften unsere Kinder im Weihnachtsgottesdienst in Limuru das Krippenspiel gestalten, worauf sie immer ganz stolz sind. Der Neujahrstag wurde mit Singen und Tanzen und Bratwürsten, Folienkartoffeln, Brotteig und Marshmallows rund ums große Lagerfeuer begrüßt. In Kenia sind die Weihnachtsferien acht Wochen lang, und da mussten sich die Hausmütter und Lehrerinnen allerlei ausdenken zum Gestalten und Spielen, und die Großen durften einen Ausflug zum Wandern in die Berge machen.

2020 fing ganz harmlos an, niemand machte sich Sorgen wegen einer Pandemie. Für mich sind das Jahresende und der Januar immer mit viel Arbeit verbunden, und so war ich viel zu beschäftigt, um mir über andere Dinge Gedanken zu machen. Ich hatte zwar davon gehört, dass Covid-19 in China ausgebrochen war und sich in Italien verbreitete, aber hier bei uns in Afrika – nein, uns würde es nicht treffen. Dachten wir!

Plötzlich war alles anders

Doch dann gab es den ersten Krankheitsfall, und die kenianische Regierung handelte sehr schnell. Mitte März wurden die Flughäfen, Schulen, Universitäten, Moscheen und Kirchen geschlossen, es gab eine nächtliche Ausgangssperre, Nairobi wurde zum Sperrgebiet erklärt und plötzlich war alles anders.
Unter den Touristen und unseren Freiwilligen brach eine Art Panik aus, jeder wollte so schnell wie möglich heim. Es gab sogenannte Evakuierungsflüge, die von den jeweiligen Botschaften organisiert wurden. Wir mussten uns buchstäblich über Nacht von den Freiwilligen, aber auch von Mietern unserer kleinen Häuschen verabschieden. Inzwischen sind nur noch fünf vermietet. Die anderen fünf stehen leer.

Auch andere Besucher blieben weg. Wir vermissen unsere „alten“ Freiwilligen, und die Ärzte sehr, denn durch ihre Besuche waren die jährliche Gesundheitsüberwachung der Kinder in Limuru und die Seminare über wichtige Themen in Sachen Gesundheit für die Angestellten gewährleistet. Und nebenbei brachten sie uns auch so allerlei Leckerli mit und fungierten als Postboten nach Deutschland!

Kein Raum für Quarantäne, keine sicheren Testmöglichkeiten

Und wir hier, wir müssen uns als „Nest“-Projekt neu erfinden! Plötzlich über Dinge nachdenken wie Quarantäneräumlichkeiten für Neuankömmlinge und Angestellte, hohe Kosten für Labortests, Unterbringung und gesündere Verpflegung für die Angestellten, ein neues Wohnhaus, neue Arbeitseinteilung und Stundenpläne, Schutzkleidung und Masken für die, die Außendienst leisten, Kosten für Transporte, denn Sammeltaxis sind jetzt ein No-go für unsere Angestellten. Wie sicher sind Besuchs- und Beratungstage in den Gefängnissen? Sind Hausbesuche und Gruppengespräche noch möglich? Und wie könnte man sie sicher durchführen? Was wird aus den Selbsthilfegruppen unserer ehemaligen Mütter? Was soll mit unseren Jüngsten geschehen, die langsam aus dem Adoptionsalter herauswachsen? Unsere bewährte Wiedereingliederungsstrategie war plötzlich nicht mehr durchführbar, Hilferufe aus den Gefängnissen konnten nicht mehr beantwortet werden.

Ein echter Konflikt sind die vielen Anfragen zu Neuaufnahmen: Babys, vergewaltigte kleine Mädchen und Teenager, Frauen aus dem Gefängnis. Wir haben keinen Raum für Quarantäne, es gibt keine sicheren Testmöglichkeiten. Und dabei ist der Bedarf so dringend. Und die Not „draußen“ so groß. Aber wie könnten wir einen positiven Befund ohne Unter­stützung vom Gesundheits- und Jugendamt bewältigen? Wie sähe es rechtlich aus, wenn unsere Angestellten ein erkranktes Kind oder eine kranke Mutter betreuen sollen?
Entscheidungen mussten und müssen noch getroffen werden, die sich auf keine Erfahrungswerte beziehen. Eine Sozialarbeiterin ist keine Kandidatin für Home-Office!
Auch intern müssen neue Umgangsregeln für Einkäufe, Besucher, Lieferanten, Handwerker usw. und aber auch für Notfälle in den Fami­lien der Angestellten aufgestellt werden.
Dank der Unter­stützung durch unsere Spender mussten wir bisher noch niemand aus Kostengründen entlassen. Im Gegenteil: Das „Nest“ ist regelrecht zu einer sicheren Oase geworden. Bis jetzt....

Vorbereitet auf die Krise

Ich hatte damals schon, als im Januar die Heuschreckenplage bekannt wurde, gut vorgesorgt und genügend Bohnen, Mais, Reis etc. eingekauft. Und natürlich (leider) auch Zucker, denn ohne Zucker und den berühmten Chai geht hier gar nix!

Unsere 80 Kinder sind alle gesund und munter! Wir hatten vor Corona ein paar sehr unterernährte Neuankömmlinge, aber denen geht es inzwischen schon gut.
Die Schulen sind bis Januar geschlossen. Ein paar der Größeren werden über Zoom unterrichtet, andere erhielten zu Semesterbeginn Lernpakete, und wieder andere nehmen am Fernsehunterricht teil. Da gibt es jede Stunde ein Programm für je eine Jahrgangsstufe.

Die Kleineren merken nicht viel von der Situation, ihr Leben im Heim spielt sich ab wie immer. Bisher gehen sie uns auch noch nicht auf die Nerven...: Ich schau nachts manchmal deutsche Fernsehnachrichten an und habe gehört, dass manche Eltern sehr genervt sind, weil sie die Kinder 24 Stunden lang um sich haben müssen.
Tatsächlich gibt es für unsere Hausmütter im Limuru-Heim kaum Rückzugmöglichkeiten. Wir waren ja nicht darauf eingestellt, dass alle Angestellten auch über Nacht hier sein würden, und so müssen sich immer zwei Frauen ein kleines Zimmer teilen. Und die Kinder – ja die sind überall und immerzu präsent. Auch ich hab, trotz der hohen Arbeitslast, ein Baby bei mir zu Hause. Die Kleine war sehr krank und eine Frühgeburt, und die Angestellten konnten es nicht so recht mit ihr. Es ist sehr anstrengend, besonders die Nächte, aber macht auch viel Freude zu erleben, wie es ihr von Tag zu Tag besser geht, und sie mich lächelnd anstrahlt jeden Morgen!

Das neue Half-Way-Haus: ein Lichtblick

Der Half-Way-Haus-Neubau hat uns letztes Jahr viel Zeit und Nervenkraft abverlangt, weil für die Baugenehmigung immer wieder neue Auflagen erfüllt werden mussten oder Papiere im Amt „verloren“ gingen. Wir kennen dieses „Spiel“ schon und haben geduldig alles, was verlangt wurde, beigebracht. Den wöchentlichen Erkundigungsbesuchen im Planungsbüro und im Finanzamt sind wir mit freundlichem Starrsinn begegnet! Letztlich hatten wir wohl den längeren Atem und der ganze Papierkram war erledigt. Im Januar konnte die Baufirma dann endlich loslegen!

Erstaunlicherweise kommt der Bau trotz der staatlich verordneten Sicherheitsmaßnahmen gut voran; z.B. darf nur eine limitierte Zahl von Arbeitern anwesend sein. Langsam weicht auch die Verbitterung über die Zerstörung des alten Half-Way-Hauses und unter den Mitarbeitern kommt Vorfreude auf. Ein nicht zu unterschätzender Lichtblick in der momentanen Lage!

Neue Arbeitszeiten, neue Aufgaben

Weil wir oft danach gefragt werden hier noch etwas zu den Mitarbeitern: Außer, dass alle im Heim „eingesperrt“ sind und ihre Fami­lien nicht sehen können, fehlt es ihnen an nichts. Die meisten haben ihre Kinder zu Verwandten aufs Land geschickt. Die Sorge jedoch, ob die Kinder gut versorgt sind, ob der Mann auch treu bleibt, ob alle gesund sind und die Sehnsucht nach der Familie und den Freunden, die macht jedem zu schaffen. Darum haben wir neue Arbeitszeiten eingeführt. Die Betreuer arbeiten ab jetzt 3 Monate lang, ohne das Heim zu verlassen, danach haben sie 4 Wochen frei. Bei der Rückkehr müssen dann erst einmal ein Test gemacht und eine Woche Quarantäne eingehalten werden.
Weil alle in-house sind, und nur die Fahrer, unsere Sozialarbeiterin Lucy und ich raus dürfen, kommen auch in dieser Beziehung neue Aufgaben auf mich zu. Ich muss mich jetzt um alle Belange des Projekts (Bank, Ämter etc.) und um die der Angestellten persönlich kümmern!

Alle 14 Tage ist für mich Großeinkaufstag, erst fürs Projekt, dann für die Angestellten! Die Supermärkte waren ja immer geöffnet und sind prall gefüllt mit allem, was das Herz begehrt! Und was unsere Angestellten nicht alles für (bescheidene!) Wünsche haben! Vom Rasierwasser über Wärmflaschen bis zu Kartoffelchips... Aber wir wollen, dass sich jeder einigermaßen wohl fühlt.
Deshalb bieten wir auch zwei Mal in der Woche Yoga an, unser Fernseh- und Spielzimmer ist immer belegt, unser Friseursalon auch. Man kann Nähkurse bei unserer Schneiderin belegen und Computerkurse bei einem der Mieter, jeden Sonntag wir im Fernsehen ein Gottesdienst aus der Basilika übertragen, und abends gibt es Nyama choma – Grillen! Man kann malen, basteln, joggen (unser Viertel ist sehr klein und sicher), kochen, backen, stricken – der Fantasie und dem Tatendrang sind keine Grenzen gesetzt.

Das Land leidet, die Korruption blüht

Um uns herum sieht es allerdings nicht gut aus. Tausende, vor allem Tagelöhner und Arbeiter aus dem informellen Sektor und dem Exportgeschäft, wie z.B. Blumen, und natürlich alle, die irgendwie mit Tourismus zu tun haben, sind jetzt ohne Einkommen. Sie müssen zusehen wie sie sich und ihre Kinder über die Runden bringen und können ihre Alten nicht mehr unterstützen. Viele sind obdachlos, weil sie die Miete, oftmals nur 15 Euro im Monat, nicht mehr bezahlen können! Im Juli/August war Winter und es war kalt (kalt heißt hier so um die 10 Grad) und nass, und nun im Oktober erwarten wir die Regenzeit.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Pandemie sind noch gar nicht abzusehen. Eines jedenfalls ist offensichtlich: Hilflosigkeit und Hunger machen aggressiv.
Interessanterweise wird nach wie vor in den Städten an allen Ecken und Enden gebaut. Wenigstens diese Arbeitsplätze blieben bisher erhalten. Man kann davon ausgehen, dass einige dieser Baustellen durch Korruption finanziert werden. Die Zeitungen und sozialen Medien berichten täglich darüber, wie viele Hilfsgelder und -güter veruntreut wurden und werden. So zum Beispiel können keine Massentests auf dem Land oder in den Slums mehr durchgeführt werden, weil tausende Test-Kits verschwunden sind, aber zwischenzeitlich in Tansania verkauft werden. Letze Woche wurde bekannt, dass ein Politikerkartell Millionen Dollars veruntreut hat. Leider werden solche Gelder nie ins Land zurück­geführt.
Das Ganze kommt mir vor wie in einem schlechten Film.

Nothilfe-Programm für die Ärmsten

Und so tun wir das Wenige, wozu wir fähig sind. Seit April läuft unser Nothilfeprogramm für unsre ehemaligen, bereits eingegliederten Mütter und Kinder. Die Pakete enthalten Nahrungsmittel, Masken, Seife, Binden und wo es nötig ist, auch Kleidung, Schuhe und Decken. Seit März wurden dafür fast 30.000 Euro ausgegeben. Unsere Sozialarbeiterinnen fahren jeden Tag raus, um diejenigen, die es am Schlimmsten erwischt hat, mit Nahrungsmittel zu versorgen. Das ist keine leichte Aufgabe.
Mehr Info dazu gibt es auf unserer Homepage.

Im Namen unserer Mütter und Fami­lien bedanken wir uns von Herzen bei Ihnen allen für Ihren unermüdlichen Einsatz und für die treue Unter­stützung! Es ist uns bewusst, dass auch unter Ihnen/Euch einige von der Krise betroffen sind und unsere Kinder und Mütter trotzdem nicht vergessen haben!

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Im Namen unserer Mütter und Fami­lien bedanken wir uns von Herzen bei Ihnen allen für Ihren unermüdlichen Einsatz und für die treue Unter­stützung!

Es ist uns bewusst, dass auch unter Ihnen/Euch einige von der Krise betroffen sind und unsere Kinder und Mütter trotzdem nicht vergessen haben!

Irene Baumgartner

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