Im Kastensystem des ländlichen Indiens werden die Einwohner der Dörfer Tas, Borwak und Thakarwudi sicher niemals aufsteigen können. Aber sie können ihre Menschenwürde gewinnen. Mit einem kleinen Anstoß ganz alleine.
Zwei Stunden Autofahrt von der 6-Millionen-Metropole Pune entfernt ziehen sich schmale, holprige Landstraßen durch die karge Steppenlandschaft Maharashtras im Westen Indiens. Verstreut in der Region um die Provinzhauptstadt Ahmednagar wohnen seit jeher verschiedene Stämme, Kastenlose, isoliert von der Mehrheitsgesellschaft, unterdrückt von den herrschenden Kasten und nicht selten von der Regierung ignoriert.
Hirten treiben alle paar Kilometer ihre Ziege und Schafe über die Straßen, ein paar Motorräder passieren die Strecke, doch auf einmal tauchen überraschend viele vollbeladene Lastwagen auf und wirbeln mächtig Staub auf: „Die Sand-Mafia“, erklärt P. Dr. Jeewendra Jadhav SJ.
Ein mittelalterliches Feudalsystem im 21. Jahrhundert
P. Klaus Värthröder, Leiter der Jesuitenmission, reist mit Pater Jadhav, P. Joe D’Souza SJ, P. Siju Varghesse SJ und Dr. Supriya D’Souza vom jesuitischen Social Center Ahmednagar durch das Stammesgebiet, um Projekte in dreien der knapp zwei Dutzend Tribal-Dörfer in Augenschein zu nehmen, die sich zwischen den Geröll-Hügeln verstecken. Bei der Sand-Mafia handelt es sich, so Pater Jadhav, um ein Netzwerk, das den Baustoff in großen Mengen abbaut und gewinnbringend verkauft. Lokale Behörden tun nichts. Gegen mögliche Kontrollen der Bundesregierung sind an Weggabelungen immer wieder Grüppchen postiert, die den spärlichen Verkehr beobachten – die neun Monate im Jahr staubtrockene Gegend erscheint extrem lebensfeindlich, das Mobilfunknetz funktioniert.
Irgendwann tauchen am Wegesrand immer mehr grüne Flecken auf: Landwirtschaftliche Flächen, kleine Granatapfelgärten, Zwiebelfelder. Der Jeep nähert sich den Backwaters der Gegend, einer Oase im riesigen Braun in Braun, die den Anbau ermöglicht. Nicht aber den Tribals.
Die meisten von ihnen nämlich sind landlos. So haben sie keine Handhabe gegen den Raubbau am Sand und keine Möglichkeit, sich gegen die Besetzung der Flächen durch Angehörige höherer Kasten zu wehren. „Würden sie aufmucken, kämen sofort die Schlägertrupps“, weiß P. Joe D´Souza, „es wurden schon Hütten angezündet und Menschen bei lebendigem Leib verbrannt“, ergänzt Pater Jadhav. Ein mittelalterliches Feudalsystem im 21. Jahrhundert. Durch aktuelle politische Entwicklungen und, damit eingehend, zunehmenden Nepotismus verschärft sich die Lage.
„Die Leute in Verantwortung bringen“
Während viele andere NGOs am Status Quo scheitern, den Menschen, so Dr. Supriya D’Souza, „Versprechungen machen, die sie gar nicht halten können“ und damit für noch mehr Frustration sorgen, kämpfen die insgesamt 30 Mitarbeiter des Social Centers erfolgreich gegen die Misere an. Mit derzeit fünf sozialen, landwirtschaftlichen und Bildungs-Projekten und dem Watershed-Programm, einem ausgeklügelten System, das Trinkwasser in die Dörfer bringt, schaffen sie spürbare Veränderungen: Es geht nicht um Almosen, es geht um Hilfe zur Selbsthilfe, darum, „die Leute selbst in Verantwortung zu bringen“, sagt Pater D’Souza.
Das Dorf Tas liegt direkt an den Backwaters, die Menschen dort verstehen sich aufs Fischen. Bislang aber haben sie mit Booten, die ihnen nicht gehören, die Fische an Land gezogen und den Eigentümern für einen lächerlichen Preis überlassen. Die meisten erwachsenen Tribals können nicht lesen und nicht schreiben, konnten so niemals ein Konto eröffnen, haben keine Autos, um den Fang zum Markt zu bringen, kein Geld und auch keine Rohstoffe, um selbst Boote zu bauen. Das ist jetzt anders:
Frauen stark machen
Gemeinsam mit Pater Väthröder und den Jesuiten von Ahmednagar ging das erste Boot des Dorfs auf Jungfernfahrt. Das ganze Dorf ist auf den Beinen, als die ankommen, Trommler begrüßen die Delegation. Dabei sind auch Maya Putekur und Gungyutui Kedure, zwei Tribal-Frauen, die als Angestellte des Social Center den Ausbruch aus dem grausamen Kastensystem geschafft haben, und – die eine als Dorf-Koordinatorin, die andere als Lehrerin – der Gemeinschaft zeigen, wie es funktioniert. „In Tas wird kein Alkohol mehr getrunken“, berichtet Maya Putekur stolz: Viele Frauen und Männer sind suchtgefährdet; die Folge: Lethargie, Vernachlässigung der Kinder, Mangelernährung.
Stattdessen ist man jetzt bestens organisiert, in Tas ebenso wie in Borwak und Thakarwudi, den beiden anderen Dörfern, denen die Delegation um Pater Väthröder einen Besuch abgestattet hat: Es gibt Komitees für Landwirtschaft und Umweltschutz, ein Kinderparlament und starke Frauengruppen: „Die Frauen sind am wichtigsten“, weiß Pater D’Souza, „ihre Motivation ist am nachhaltigsten.“ Jeder Bewohner, vom Kind bis zum Greis, ist involviert.
In Borwak und Thakarwudi wurden jüngst zwei Bewässerungsprojekte – Brunnen und Wassertanks – eingeweiht. Jetzt können die Tribals ihr Vieh versorgen, ohne zuvor Stunden lang Wasser ins Dorf zu schleppen „ganz schnell und einfach Chapatis backen“, wie ein alter Mann gerührt bemerkt, und gewinnen damit Zeit für wichtige Dinge: etwa Bildung.
Die Kinder sollen es besser haben als ihre Eltern, stolz tragen sie ihre blitzblanken Schuluniformen spazieren, nach der Grundschule sollen möglichst viele weitermachen, etwa am St. Joseph’s Technical in Pune, das den Benachteiligten eine solide theoretische und praktische Ausbildung vermittelt, mit der sie ihre Heimatdörfer weiter voranbringen.
Im Kastensystem des ländlichen Indiens werden die Tribals sicher niemals aufsteigen können. Aber sie können ihre Menschenwürde gewinnen. Mit einem kleinen Anstoß ganz alleine.