– Indien

Auf einmal staatenlos

Neue Gesetze machen Millionen Inder zu „Ausländern“ und treiben die Spaltung der Gesellschaft voran. In Assam, „Ground Zero“ der Katastrophe, kämpft das Team von Owen Chourappa SJ für die Rechte der Armen und die Werte der Verfassung.

Im Dezember 2019 hat die indische Regierung ein neues Staats­bürgerschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA) verabschiedet, das die Einbürgerung von Flüchtlingen aus den Nachbarländern Bangladesch, Pakistan und Afghanistan vereinfacht. Explizit ausgenommen von der Regelung aber sind Muslime. Für Kritiker ein klarer Verstoß gegen die säkulare Verfassung der „größten Demokratie der Welt“. Sie fürchten, dass die verantwortliche Hindu-nationalistische BJP-Partei um Ministerpräsident Narendra Modi die Spaltung des Landes weiter vorantreibt. Ein weiterer Keil ist die geplante Einführung eines nationales Bürgerverzeichnisses (NRC). Das Register wurde bislang nur im nordöstlichen Bundestaat Assam erhoben, wo illegale Einwanderung aus Bangladesch seit Langem ein großes Thema ist.

Der Jesuit Owen Chourappa SJ ist Direktor der Menschen­rechtsorganisation Legal Cell for Human Rights (LCHR) in Assam und beschreibt die Auswirkungen und seine Arbeit mit den Betroffenen:

Zerrissene Fami­lien

Die letzte aktualisierte Fassung des NRC für Assam wurde am 31. August 2019 veröffentlicht und listet 31 Millionen Personen auf – obwohl unser Bundesstaat 33 Millionen Einwohner hat. 1,9 Millionen Antragsteller wurden ausgelassen, was sie potenziell staatenlos macht. Diejenigen, die nicht auf der Liste stehen, haben eine ungewisse Zukunft vor sich: Sie haben keine Geburtsurkunden und können so nicht beweisen, dass sie indische Staatsangehörige sind.

Die Veröffentlichung des NRC zerreißt ganze Fami­lien und bringt unsägliches Leid. Derzeit kümmern wir uns um 627 Einzelfälle. Eine unserer Klientinnen, Nuritan, wurde aus dem NRC ausgeschlossen und als einzige ihrer fünf Geschwister als „Ausländerin“ deklariert. Ihr Mann sitzt bereits in Abschiebehaft. Chaidur, ein 42-jähriger Landwirt, fand sich selbst und seinen 19-jährigen Sohn auf der Liste des NRC wieder, nicht aber seine Frau und seine beiden anderen Kinder. Wir konnten seine Dokumente vervollständigen und haben einen Überprüfungsantrag gestellt.

Ein Schreibfehler führt ins Abschiebelager

Schlechte Aussichten hingegen hat Abul. Er ist 30 Jahre alt und arbeitet in einer Textilfabrik. Mit einer Anzeige der Polizei kam er zu uns und bat um Rechtshilfe. Seine Eltern und andere Fami­lienmitglieder waren bereits im NRC registriert, er nicht, da sein Name in einem anderen Dokument falsch geschrieben war. Die Berichtigung des Rechtschreibfehlers wurde ihm verweigert.

Eines Tages rief Abul von einer unbekannten Nummer an, weinte und sagte, er werde sich verstecken: „Ich kann nicht in mein Dorf zurück­kehren. Die Polizei wird mich finden und in ein Internierungslager bringen.“ Wir haben die Angelegenheit erneut vor den Obersten Gerichtshof gebracht, um eine Überprüfung der Petition zu erreichen. Das Gericht hat die Überprüfung noch nicht zugelassen.

Eine humanitäre Krise in Assam

In den letzten Monaten sind die Zeitungen voll mit traurigen Geschichten über Menschen, die von der Liste des NRC ausgeschlossen wurden, darunter sind verdi ente Armee-Veteranen und ein bedeutender, mit einem Landespreis bedachter Künstler. Viele Betroffene sehen keinen Ausweg und begehen Selbstmord. In Assam zeichnet sich eine humanitäre Krise ab: Das bürokratische Monster NRC droht damit, mehr als zwei Millionen Menschen auszuweisen, sodass sie staatenlos und ohne jede Rechtsmittel dastehen.

Mit der Einführung des NRC in Assam – auch hier regiert seit 2016 die BJP – ging es darum, „Millionen illegaler muslimischer Einwanderer aus Bangladesch“ aufzuspüren und auszuschließen. Doch zur völligen Bestürzung der Anhänger dieser spalterischen Ideologie stellte sich heraus, dass die Mehrheit der Ausgeschlossenen (1,6 Millionen von 1,9 Millionen) Hindus waren. Daher ergriff die Regierung rasch Maßnahmen, um durch die Einführung des neuen Staats­bürgerschaftsgesetzes (CAA) den massiven Ausschluss von Hindus aus dem NRC von Assam aufzuheben.

Ein Gesetz für alle – bis auf Muslime

Das CAA zielt darauf ab, „jeder Person, die einer hinduistischen, sikhischen, buddhistischen, jainistischen, parsischen oder christlichen Gemeinschaft aus Afghanistan, Bangladesch oder Pakistan angehört, die am oder vor dem 31. Dezember 2014nach Indien eingereist ist“ und religiöser Verfolgung ausgesetzt ist, die indische Staats­bürgerschaft im Rahmen eines „Einbürgerungsverfahrens“ zu gewähren. Der Änderungsantrag schließt Angehörige aller muslimischen Gemeinschaften aus.

Landesweite Proteste

Die Ausschluss-Politik hat landesweit zu massiven Protesten geführt, zu Äußerungentiefer Besorgnis in (begrenzten) Teilen der Presse und auf Blogs, aber auch zu Gewalt auf den Straßen. Angst und Wut macht sich breit in vielen Universitäten und weiten Teilen einiger Bundesstaaten. Und das ist nur der erste Tribut, den der Citizenship Amendment Act fordert, obwohl er nach eigenen Schätzungen der Regierung nur etwas mehr als 31.000 Menschen helfen wird, sich aber gegen die zweitgrößte religiöse Gemeinschaft des Landes richtet.

Bruch mit der Verfassung

Viele Menschen, die dagegen protestieren, glauben, das neue Gesetz nur dazu dienen wird, die indischen Gemeinschaften, insbesondere Hindus, gegen Muslime zu polarisieren. Kurz vor der Verabschiedung des Staats­bürgerschaftsgesetzes im Dezember 2019 haben über 700 Aktivisten, Akademiker und Filmemacher einen Brief an die indische Regierung veröffentlicht, in dem sie ihre große Besorgnis über CAA und NRC zum Ausdruck brachten: „Zum ersten Mal gibt es einen gesetzlichen Versuch, nicht nur Menschen aus einigen Glaubensrichtungen zu privilegieren, sondern gleichzeitig andere, nämlich Muslime, ineinen zweitklassigen Status zu drängen“, schrieben sie. Das neue Gesetz verstoße auch gegen die säkularen Verfassungsgrundsätze und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz.

Ground Zero Assam

Die Folgen von NRC und CAA haben dazu geführt, dass unschuldige Personen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu Opfern wurden. Wir in Assam befinden
uns am „Ground Zero“ der Katastrophe. Als Mitarbeiter der Legal Cell for Human Rights (LCHR) sind wir glücklich, einigen Betroffenen zu helfen, indem wir ihnen eine rechtliche Vertretung vor den Gerichten ermöglichen. Seit 2015 haben wir in Zusammenarbeit mit engagierten Anwaltskollegen fast 627 Personen vor verschiedenen Ausländergerichten und dem Obersten Gerichtshof pro bono publico vertreten. Bei der Bereitstellung von Rechtsbeistand für die Opfer von NRC und CAA liegt ein besonderer Schwerpunkt auf der Unter­stützung von Frauen, Witwen und älteren Menschen.

Indien am Scheitelpunkt

Einigen von ihnen ist es gelungen, die Anerkennung ihrer Staats­bürgerschaft zu erreichen, während wir hoffen, noch vielen anderen helfen zu können. Im Durchschnitt vertreten wir zeitgleich zehn Personen vor Gericht. Die Arbeit ist hektisch und anstrengend: Wir müssen täglich vor Gericht zu erscheinen, weil das Leben der Armen auf dem Spiel steht. Es gibt viel mehr arme Menschen, die vor Gericht vertreten werden müssen und wir müssten weitere Anwälte beschäftigen, um mehr von ihnen zu erreichen, aber aufgrund fehlender Mittel können wir nicht mehr Fälle zu übernehmen, da unser Dienst für die Klienten kostenlos ist.

Indien steht heute nicht an der Schwelle, Geschichte zu machen, sondern in eine Katastrophe zu schlittern. In den kommenden Monaten wird sich entscheiden, ob wir in permanente innenpolitische Auseinandersetzungen verfallen und mit zunehmender internationaler Schmach konfrontiert werden, oder ob wir versuchen werden, unsere inhärenten Stärken zurück­zugewinnen: Inklusion, Vielfalt, Pluralismus.

Owen Chourappa SJ

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