P. Martin Lenk war viele Jahre als Gemeindepfarrer im Barrio tätig. Dort gehören Wochentagsgottesdienste in den Häusern zum Glaubensleben.

 – P. Martin Lenk im Gespräch

„Ich habe viel von den Armen gelernt"

Nürnberg, 8.5.2013 – Thriller für den Nachttisch hätte Martin Lenk gar nicht nötig. Wo er wohnt, spielen sich ganz reale Krimis ab: wegen Drogen, aus Rache oder um ein Handy. Allein schon vor der Tür des Jesuiten-Hauses, wo gelegentlich Gäste in der kurzen Wartezeit nach dem Klingeln ausgeraubt werden. Martin Lenk lebt in der Hauptstadt der Dominikanischen Republik, am Rand der verrufensten Viertel von Santo Domingo. Jeder kennt hier jemanden, der erschossen wurde. Lenk, als Pfarrer, kennt mehrere. Der alte Vater einer Pfarrsekretärin zum Beispiel fiel Kugeln zum Opfer, weil er sich auf dem Weg zum Obstmarkt gegen Gelddiebe wehren wollte.

Beim Besuch in der Jesuitenmission Nürnberg berichtete der Jesuitenpater über Gemeindearbeit in Umständen, die abgesicherte Mitteleuropäer das Fürchten lehren. Bereits 1982, noch als Student, lernte der gebürtige Hesse den kleinen Karibikstaat kennen. Seit 1992 arbeitet er fast ununterbrochen dort. Nach der Pfarrseelsorge auf dem Land und in der Pfarrei des Armenviertels Los Guandules bildet er mittlerweile junge Jesuiten im Philosophiestudium aus.

Auf dem Weg vom Entwicklungs- zum Schwellenland hat sich in der Dominikanischen Republik seither vieles zum Guten entwickelt: Bildungsqualität, Infrastruktur, Wirtschaftswachstum. Doch mit der Verstädterung, erinnert sich Lenk, kam das Sozialgefüge ins Wanken. „Man sieht, was die anderen besitzen, und dass man es nur mit enormer Anstrengung erreichen kann – oder mit Kriminalität und Korruption.“ Die Großfamilie und ihre Werte lösen sich auf, die Jugend leidet unter Perspektivlosigkeit. „Aber mehr als die Armut belastet die Leute die Situation der Gewalt. Heute haben sie Angst. Und dabei ist es noch gar nicht so schlimm wie in Honduras oder Guatemala.“

Auch Martin Lenk musste längst Gemeindetreffen auf den frühen Abend vorverlegen und würde heute um Mitternacht nicht mehr allein durchs Barrio laufen. Er wurde schon öfter bedroht – blieb aber unbehelligt, als die Gestalten merkten, dass sie es mit einem Geistlichen zu tun haben. Die Kirche besitzt noch Autorität. Es haben sich schon Kriminelle an „Padre Martin“ gewandt mit der Bitte, sie der Polizei zu übergeben. Ohne seinen Schutz, so fürchteten sie, würden sie sofort von den gnadenlosen Polizisten erschossen.

Der 52-Jährige spricht nur scheinbar unbeteiligt über solche Erinnerungen. In Wirklichkeit berührt es ihn merklich, dass der unsichere Alltag in den Armenvierteln auch einen höchst positiven Wert hervorbringt: Solidarität. Die soziale Kontrolle in Los Guandules etwa, wo sich 40.000 Bewohner auf nur einem Quadratkilometer zusammendrängen, funktioniert gut. Wenn die Leute wollen, machen sie einen Dieb binnen einer Stunde ausfindig. „Das ist eine Überlebensstrategie.“ Der Zusammenhalt der Kirchengemeinden in den mehrheitlich katholischen Vierteln habe schon manchen vom Wegzug abgehalten. Ein Pfarrer, überlegt Martin Lenk, habe in diesem Land mehr Arbeit als in Deutschland, aber in Deutschland sei sie garantiert stressiger.

Drei Dinge habe er von den Armen gelernt, erzählt der Pater in Nürnberg. „Erstens: Großzügigkeit.“ Immer wieder staunt Lenk zum Beispiel über Nachbarn, die wie selbstverständlich Kinder mit großziehen, wenn Eltern an Aids starben. Nie wird er die Frau aus der Gemeinde vergessen, die einfach das Kleinkind bei sich behielt, das ihr eine Fremde ein Jahr zuvor auf der Straße überlassen hatte – unter dem Vorwand, sie gehe nur schnell in einen Laden und komme gleich zurück.

Die beiden anderen Lektionen heißen Gottvertrauen und Dankbarkeit. „Leute mit viel größeren Problemen als in Deutschland sind viel gelassener. Man lebt im Slum in einer ständigen Tragödie, der Tod ist viel näher, aber man ist deswegen nicht trauriger oder gar depressiv.“ Die Schicksalsergebenheit als Grundhaltung geht einher mit unbefangener Frömmigkeit.

Viele Sektenprediger treten in der Dominikanischen Republik auf und drängen die Menschen zur moralischen Besserung. Das ist für Martin Lenk zu kurz gedacht. Die Kriminalität sei nicht nur ein moralisches, sondern vor allem ein soziales Problem. Er versteht den Auftrag eines Priesters im Barrio vor allem als Glaubensvermittlung. „Es ist dort sehr viel unmittelbarer erfahrbar, dass der Glaube etwas mit dem Leben zu tun hat. Und dass ich etwas verändern muss, wenn ich glaube.“

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